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Beiträge und Entscheidungen/ Arzthaftungsrecht

Einwilligungsfähigkeit eines schmerzbeeinträchtigten Patienten (OLG Koblenz, Urt. v. 01.10.2014 - 5 U 463/14)

Die Einwilligungsfähigkeit ist beim erwachsenen Menschen die Regel. Stellt der Patient sie in Abrede, muss er sein Vorbringen beweisen, sofern die Gesamtschau der unstreitigen medizinischen Fakten die fehlende Einwilligungsfähigkeit nicht eindeutig indiziert. Einen Erfahrungssatz, dass starke Schmerzen die Einwilligungsfähigkeit immer einschränken oder gar aufheben gibt es nicht.

Ansprechpartner: Dr. Götz Tacke, Partner

Im Rahmen einer indizierten und lege artis durchgeführten Gallenblasenoperation hatte sich das sehr seltene Risiko einer Arterienverletzung verwirklicht. Das Landgericht sprach der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von € 4000,00 zu. Eine wirksame Einwilligung gemäß § 630 d BGB liege nicht vor, weil die Klägerin beim Aufklärungsgespräch wegen starker Schmerzen nicht einwilligungsfähig gewesen sei. Das erschließe sich auch daraus, dass die Unterschrift der Klägerin auf der Einverständniserklärung „zittrig“ sei. Der Eingriff sei auch nicht durch eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt.
Auf die Berufung der Behandlerseite hin wurde das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.


Aus den Gründen:


Dass Patienten wegen eines akuten Gesundheitsproblems mit starker Schmerzsymptomatik zur stationären Behandlung in ein Krankenhaus kommen, ist Klinikalltag. Einen Erfahrungssatz dahin, dass Schmerzen, die in ihrem Schwergrad und dem Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten des Patienten schon objektiv nicht verlässlich einschätzbar sind, jenseits der auch subjektiv kaum fassbaren Schwellen zwischen „einfachem“, „starkem“ und „unerträglichem“ Schmerz die Einwilligungsfähigkeit des Patienten immer einschränken und letztendlich sogar völlig aufheben, gibt es nicht. Auch der von starken Schmerzen gepeinigte Patient kann im Einzelfall noch derart aufnahmefähig, bewusstseins- und entscheidungsklar sein, dass er die ärztlichen Sachinformationen bei der Aufklärung verstehen, autonom verarbeiten und auf dieser Grundlage eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen kann, ob er in den Eingriff einwilligt.
Daneben stellt sich auf derVerschuldensebenedie Frage, ob dem Arzt, der das Aufklärungsgespräch geführt hat, bewusst geworden ist oder hätte bewusst werden müssen, dass die Schmerzen oder die schmerzveranlasste psychische Beeinträchtigung des Patienten einen Grad erreicht hatte, der die Einwilligungsfähigkeit ausschloss. Dem Senat erscheint zweifelhaft, ob der für fehlendes Verschulden beweispflichtigen Behandlungsseite (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) damit nicht eine im Nachhinein kaum verifizierbare Rekonstruktion der Wahrnehmung oder Wahrnehmbarkeit des Grades der jeweiligen Beeinträchtigung und ihrer konkreten Auswirkungen für die Einwilligungsfähigkeit des Patienten auferlegt wird.
Die Einwilligungsfähigkeit ist beim erwachsenen Menschen die Regel. Deshalb muss derjenige, der sie in Abrede stellt, sein Vorbringen beweisen (vgl. zur gleichgelagerten Problematik bei der Geschäftsfähigkeit Ellenberger in Palandt, BGB 73. Auflage, Randnummer 8 zu § 104 BGB m. w. N.), sofern die Gesamtschau der unstreitigen medizinischen Fakten nicht eindeutig fehlende Einwilligungsfähigkeit belegt. Nach Auffassung des Senats besteht im Streitfall keinerlei Anhalt für fehlende Einwilligungsfähigkeit der Klägerin (im Ergebnis ähnlich OLG Frankfurt in VersR 1984, 289 mit Nichtannahmebeschluss des BGH vom 24.1.1984 - VI ZR 140/83). Bei dieser Sachlage fehlt es ersichtlich auch am Verschulden der Behandlungsseite.

Anmerkung:

Im Arzthaftungsprozess werden die Ansprüche klassischerweise neben einem Behandlungsfehlervorwurf auch auf ein Aufklärungssäumnis gestützt. Neben dem Vortrag, die Aufklärung/Einwilligung sei z.B. nicht in ausreichendem zeitlichem Abstand zum Eingriff erfolgt, wird häufig die fehlende Einwilligungsfähigkeit behauptet. Die Entscheidung des OLG Koblenz stellt korrekt darauf ab, dass Patienten, die sich einem operativen Eingriff unterziehen, in der Regel Schmerzen haben, was nicht automatisch zu fehlender Einsichtsfähigkeit führen kann. Außerdem stellt das Berufungsgericht richtigerweise auf das fehlende Verschulden des Arztes ab, der die Einwilligung des Patienten akzeptiert hatte und den Eindruck haben durfte, verstanden worden zu sein. Darüber hinaus dürfte sich die Patientin im vorliegenden Fall aufgrund ihrer Schmerzen nicht in einemechten Entscheidungskonfliktbefunden haben.


Fundstelle: NJW 2015, 79; BeckRS 2014, 18876