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Beiträge und Entscheidungen/ Arzthaftungsrecht

Kompetenzüberschreitung eines Rettungsassistenten als (grober) Behandlungsfehler (KG, Urteil vom 19.05.2016 - 20 U 122/15)

Ein über akute Brustschmerzen klagender Patient muss, sofern die Schmerzen nicht offensichtlich eine herzfremde Ursache haben, einer notärztlichen Abklärung zugeführt werden.
Es übersteigt die Kompetenz eines Rettungssanitäters, unklare Brustschmerzen diagnostisch einem herzfremden Krankheitsbild zuzuordnen.
Nimmt ein Rettungssanitäter pflichtwidrig eine entsprechende Einordnung vor, wird er im Kompetenzbereich des Arztes tätig, was eine Anwendung der zur Arzthaftung entwickelten Beweislastregeln im Rahmen des Amtshaftungsanspruchs gestattet.


Ansprechpartner: Dr. Götz Tacke, Partner

Der Kläger alarmierte wegen erheblicher Atembeschwerden und Schmerzen im Brustbereich die Feuerwehr und wurde daraufhin von zwei Rettungsassistenten aufgesucht. Diese dokumentierten u.a.„atem- und bewegungsabhängigen Intercostalschmerz”und verwies den Kläger an seinen Hausarzt. Diesen suchte der Kläger wenige Stunden später auf und wurde von dort aus wegen des Verdachts auf einen Herzinfarkt in ein Krankenhaus eingeliefert, wo entsprechendes diagnostiziert wurde. Außerdem erlitt der Kläger während einer sodann durchgeführten Herzkatheteruntersuchung einen Schlaganfall.
Das Landgericht gab der Klage im Wesentlichen statt. Die dagegen vom Beklagten eingelegte Berufung blieb ohne Erfolg.
Aus den Gründen:
Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der rechtliche Ansatz für eine Haftung des Beklagten in § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG zu sehen ist, weil die betroffenen Rettungsassistenten durch die Feuerwehr mit dem Rettungseinsatz beauftragt waren und die Wahrnehmung der rettungsdienstlichen Aufgaben sowohl im Ganzen als auch im Einzelfall der hoheitlichen Betätigung zuzurechnen ist. Aus diesem Grund sind insbesondere auch ärztliche Fehler im Rettungsdiensteinsatz nach Amtshaftungsgrundsätzen zu beurteilen; eine persönliche Haftung scheidet insoweit grundsätzlich aus.
Entgegen der Ansicht des Beklagten hat das Landgericht im Weiteren zutreffend und rechtlich nicht zu beanstanden angenommen, dass die betroffenen Rettungsassistenten fahrlässig die ihnen gegenüber dem Kläger obliegenden Amtspflichten verletzt haben. Ausgehend von der hoheitlichen Regelung des Berliner Rettungsdienstgesetzes bestehen die primären Aufgaben des Rettungsdienstes in der sog. Notrettung und dem davon abzugrenzenden Krankentransport. Aufgabe der Notrettung ist es, das Leben oder die Gesundheit von Notfallpatienten zu erhalten, sie transportfähig zu machen und sie unter fachgerechter Betreuung in eine für die weitere Versorgung geeignete Einrichtung zu befördern. Anders ausgedrückt obliegt es dem Rettungsdienst in diesem Bereich erste Hilfe zu leisten bzw. den Patienten soweit zu stabilisieren, dass er transportfähig wird, und ihn sodann zu befördern. Eine ärztliche Versorgung im eigentlichen Sinne bzw. eine abschließende Diagnoseerstellung fällt damit grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich des Rettungsdienstes. In Abgrenzung zum Krankentransport geht es bei der Notrettung jedoch nur um die Versorgung von Notfallpatienten. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 2 Satz 2 BlnRDG sind dies Personen, die sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht umgehend geeignete medizinische Hilfe erhalten. Dass der Kläger vorliegend als Notfallpatient einzustufen war und demgemäß für die weitere Versorgung in eine geeignete Einrichtung zu verbringen gewesen wäre, folgert das Landgericht in einer expost-Betrachtung aus dem Umstand, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Eintreffens des Rettungsdienstes unstreitig bereits einen Herzinfarkt erlitten hatte. Maßgeblich für die Frage der schuldhaften Verletzung einer bestehenden Amtspflicht im Bereich des Rettungsdienstes kann indes nicht die Bewertung ex post, sondern nur die Bewertung ex ante sein. … Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, wenn es das Landgericht als pflichtwidrig ansieht, dass die Zeugen die vom Kläger geschilderten Beschwerden als Intercostalschmerzen abgetan haben. Denn unabhängig davon, ob diese Einschätzung im Ergebnis richtig oder falsch war, vermag sie es schon dem Grunde nach nicht zu rechtfertigen, den Kläger als Nicht-Notfallpatienten anzusehen und von einer umgehenden ärztlichen Abklärung durch Verständigung des Notarztes anzusehen.
Die grundsätzliche Problematik des vorliegenden Falles besteht darin, eine Abgrenzung vorzunehmen, inwieweit Rettungssanitäter/-assistenten überhaupt berechtigt sind, den Zustand eines um Hilfe Ersuchenden selbst zu beurteilen und zu entscheiden, ob es sich um einen Notfallpatienten handelt oder nicht. Dabei verschließt sich der Senat nicht den sich in der Praxis ergebenden Erfordernissen eines effizienten und ressourcenschonenden Einsatzes von qualifizierten Fachkräften auch und insbesondere im Bereich des medizinischen Rettungsdienstes. Aus diesem Grund geht der Senat auch nicht soweit, einem Rettungssanitäter oder -assistenten generell die Befugnis hierzu abzusprechen. Dies darf aber nicht den Blick darauf versperren, dass die primäre Aufgabe der Notfallrettung in der Erstversorgung - und zwar nur soweit ein Notarzt noch nicht anwesend ist - und in der Beförderung besteht. Einem Rettungssanitäter/-assistenen kommt daher insbesondere nicht die Stellung eines Notarztes zu; vielmehr ist er lediglich dessen Helfer. Entsprechendes folgt sowohl aus § 3 RettAssG als auch aus § 2 Abs. 2 BlnRDG. Dies vorausgeschickt hat der Senat festzustellen, dass es im Falle der geschilderten Brustschmerzen eine Frage der medizinischen Bewertung (Diagnose) darstellt, welchen Ursprungs diese sind. Zwar mag die angebliche Schilderung der Schmerzen als „atem- und bewegungsabhängig” ein gewisses Indiz dafür sein, dass es sich nicht um Schmerzen handelt, die vom Herzen ausgehen. Denn die Ursache sog. Intercostalschmerzen ist die Einklemmung von Intercostalnerven im Intercostalraum. In Abgrenzung zu sog. Herzschmerzen sind erstere in der Regel vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich bei tiefen Ein- und Ausatmen steigern und mit der Veränderung der Lage oder Bewegung im Brustkorb ändern. Demgegenüber verändern tiefes Ein- und Ausatmen oder Veränderungen der Lage sowie Bewegungen des Brustkorbes einen vom Herzen herrührenden Schmerz grundsätzlich nicht. Dies ändert aber nichts an dem Umstand, dass der Intercostalraum gerade im Brustbereich angesiedelt ist und eine genaue Differenzierung letztlich nur vorgenommen werden kann, wenn der Patient in der Lage ist, den Schmerz hinreichend zu verifizieren und auch sonst keine anderen Symptome vorhanden sind. Dass dies im Moment des Eintreffens der Notrettung regelmäßig schwierig sein wird und von einem über diesem Weg um Hilfe ersuchenden Patienten kaum zu verlangen ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Vergegenwärtigt man sich außerdem, welche gravierenden Folgen ein Herzinfarkt nach sich ziehen kann, und dass in einem solchen Fall oft wenige Minuten darüber entscheiden, ob diese eingegrenzt werden können, ist es dem Senat schlichtweg unverständlich, dass der Beklagte meint, die betroffenen Rettungsassistenten haben diese Bewertung abschließend eigenverantwortlich vornehmen dürfen, zumal eine ausreichende Abklärung in der Regel nur durch ein Elektrokardiogramm, durch Messung sog. Biomarker „Herzenzyme” und/oder durch bildgebende Verfahren erfolgen kann. Selbst wenn der Kläger daher nicht über akute Atemnot oder das Gefühl eines breiten Gürtels berichtet hätte, ist es bei über akute Brustschmerzen klagenden Patienten, sofern diese nicht offensichtlich eine andere Ursache haben, unumgänglich, eine notärztliche Abklärung herbeizuführen. Nichts anderes hat auch der Sachverständige in seinem Gutachten und im Rahmen seiner mündlichen Ausführungen im Verhandlungstermin am 19. Mai 2016 ausgeführt. Hier gab er auf Vorhalt des Rettungsdiensteinsatzbogens an, dass die darin wiedergegebene Angabe „Intercostalschmerz” keine Darstellung von Symptomen, sondern eine Diagnose sei, denn die Schmerzen würden hiermit einer konkreten Ursache zugeordnet. Insbesondere die Beteiligung von Herz und Lunge werde durch die Wortwahl „intercostal” ausgeschlossen. Daran, dass die Stellung einer solchen Diagnose im Allgemeinen und angesichts des Umfangs der erfolgten Untersuchung im Speziellen die Kompetenzen eines Rettungsassistenten überschreiten, ließ der Sachverständige keinen Zweifel. Er brachte zudem sein Unverständnis darüber zum Ausdruck, dass eine solche Diagnose ohne weitergehende Untersuchungen, insbesondere ein EKG gestellt worden ist. Sofern einer seiner Kollegen in dieser Weise verfahren würde, würde er an dessen Kompetenz zweifeln. Selbst wenn man dem Beklagten darin folgte, dass die Rettungsassistenten mit ihrer Wortwahl einen Schmerz zwischen den Rippen wiedergeben wollten, sah es der Sachverständige als unumgänglich an, eine Herzbeteiligung auszuschließen. Eine akute Brustschmerzsymptomatik könne ein Hinweis für eine ganze Reihe von lebensbedrohlichen Erkrankungen sein, wie z. B. eine Lungenembolie, eine Aortendissektion oder ein akutes Koronarsyndrom, wobei sämtliche der genannten Erkrankungen ein sehr enges Behandlungszeitfenster aufweisen.
Der Vollständigkeit halber sei schließlich erwähnt, dass auch nach dem Indikationskatalog der Bundesärztekammer für den Notarzteinsatz unter Bezug auf den Patientenzustand „akute Brustschmerzen” den Einsatz eines Notarztes indizieren.
Im Bereich der ärztlichen Behandlung ist anerkannt und nunmehr auch in § 630h Abs. 5 BGB gesetzlich geregelt, dass zugunsten des Patienten hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität Beweiserleichterungen bis hin zur Kausalitätsvermutung eingreifen, wenn ein grober Behandlungsfehler vorliegt. Diese Grundsätze sind zwar - insoweit ist dem Landgericht zuzustimmen - auf Fälle, in denen es um das Handeln von Rettungssanitäter geht, grundsätzlich nicht anwendbar. Dabei sind aber dogmatisch zwei Fragestellungen zu unterscheiden. Zum einen stellt sich die Frage, ob die im Rahmen der Arzthaftung entwickelten Grundsätze generell auf die Fälle der Amtshaftung übertragen werden können. Dies ist zu bejahen, weil es für die tragenden Überlegungen der Beweiserleichterung aus Sicht des Patienten nicht darauf ankommen kann, ob der handelnde Arzt auf der Grundlage hoheitlichen Handelns oder auf der Grundlage eines Behandlungsvertrages tätig wird. Zum anderen stellt sich dann die Frage, ob die Grundsätze nur im Fall des Tätigwerdens eines Notarztes oder aber auch auf das Handeln von Rettungssanitätern/-assistenten anwendbar sind. Auch dies ist zumindest vorliegend zu bejahen. Denn allein der Umstand, dass es sich nicht um Ärzte im eigentlichen Sinne handelt, kann der Annahme der Beweislastumkehr nicht entgegenstehen. Vielmehr werden nach der Rechtsprechung auch Maßnahmen oder Unterlassungen von nichtärztlichem Personal mit der Folge einer Beweislastumkehr als grobe Behandlungsfehler aufgefasst. Entscheidend ist, dass es sich um ein im eigentlichen Sinne medizinisches Vorgehen handelt. Dies wäre in Bezug auf den eigentlichen Aufgabenbereich eines Rettungssanitäters, d. h. die Herstellung der Transportfähigkeit des Patienten und dessen anschließende Beförderung zwar zu verneinen. Hier geht es aber gerade nicht um Fehler bei der Zuführung des Klägers zur medizinischen Versorgung, sondern vielmehr darum, dass es im Rahmen des Rettungsdiensteinsatzes unterlassen worden war, einen Notarzt hinzuzuziehen oder den Kläger umgehend in das nächst gelegene Krankenhaus zu transportieren, und dass die Zeugen F. und K. eigenverantwortlich eine Diagnose gestellt und hierauf beruhend entschiedenen haben, dass der Kläger keiner notfallmedizinischen Versorgung bedürfe. Dies steht einer „Behandlung” im medizinischen Sinne gleich. Insoweit ist der vorliegende Fall auch von dem Sachverhalt des OLG Köln abzugrenzen, in dem der dortige Senat Beweiserleichterungen unter dem Gesichtspunkt eines „groben Fehlers” für den Bereich des Handelns durch Rettungssanitäter abgelehnt hatte.
Dies vorausgeschickt, ist die festgestellte Pflichtverletzung wertungsmäßig auch einem „groben Behandlungsfehler” gleichzustellen. Ein solcher liegt in der Regel dann vor, wenn ein Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Vorliegend sind die betroffenen Rettungssanitäter zwar keine Ärzte gewesen, so dass es fraglich sein könnte, welche Grundsätze anzulegen sind. Indes ist der Pflichtverstoß, d. h. die unterlassene Hinzuziehung eines Notarztes und die eigenständige Stellung einer Diagnose, derart evident, dass dies die Gleichstellung mit einem groben Behandlungsfehler rechtfertigt. Hinzu kommt, dass der Sachverständige ebenfalls ausführt, dass das „akute Brustschmerzsyndrom” zu den lebensbedrohlichen Akutkrankheiten zählt und daher einer medizinischen fachärztlichen Abklärung bedarf. Für den ärztlichen Bereich formulierte der Sachverständige, dass er an der Kompetenz eines Kollegen zweifeln würde, sofern dieser die durch die Rettungsassistenten angenommene Diagnose ohne weitergehende Untersuchung (insbesondere eines EKG) stellen würde. Wenn der Sachverständige dies bereits als nicht nachvollziehbar und besonders evident beurteilt, dann muss dies erst Recht in Bezug auf die hier tätigen Rettungsassistenten gelten, die ohnehin nicht zur Stellung einer Diagnose berechtigt sind. Jedenfalls kann insoweit kein anderer Maßstab gelten, wenn diese im Kompetenzbereich eines Arztes tätig werden. Insgesamt hat das Landgericht somit zu Recht auf eine Haftung des Beklagten erkannt.


Fundstelle: VersR 2017, 551 ff.