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Beiträge und Entscheidungen/ Arzthaftungsrecht

Vertrauensgrundsatz zwischen Orthopäde und Radiologe (OLG München, 22.08.2013 - 1 U 204/12)

Ein Orthopäde darf sich auf den schriftlichen Befund des Radiologen, dass die von diesem gefertigten MRT-Aufnahmen (nur) eine Teilruptur der Quadrizepssehne zeigen,verlassenund muss die Frage einer Operation der Verletzung mit dem Patienten nicht besprechen.

Ansprechpartner: Dr. Götz Tacke, Partner

Es entspricht gesicherter obergerichtlicher Rechtsprechung, dass, wenn Ärzte verschiedener Fachrichtung an der Behandlung eines Patienten beteiligt sind, zwischen diesen Ärzten derVertrauensgrundsatzgilt, d. h. jeder beteiligte Arzt kann und darf, wenn keine aussagekräftigen gegenteiligen Umstände zu Tage treten, ohne Kontrollmaßnahmen davon ausgehen, dass der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der notwendigen Sorgfalt erfüllt hat (Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 3. Auflage, Rdnr. A 253 m. w. N.).

In der Heilkunde hat sich mit der beträchtlichen Zunahme des ärztlichen Wissens eine Vielzahl von Spezialisierungen in Form der diversen Facharztrichtungen herausgebildet. Dies wurde erforderlich, weil ein einzelner Arzt schon lange nicht mehr das gesamte medizinische Wissen überblicken geschweige denn beherrschen und anwenden kann. Demzufolge muss, kann und darf sich ein Arzt auf die Feststellungen und Befundeverlassen, die ein anderer Arzt, zu dem er den Patienten überwiesen hat, auf einem dem Überweisenden fremden Facharztgebiet getroffen hat. Dies gilt … auch im Verhältnis des behandelnden Orthopäden zum Radiologen.

Zwar besteht für den Arzt in einem so wissensdynamischen Fach wie der Medizin die Pflicht zur kontinuierlichen Weiterbildung und Anpassung an den aktuellen Wissensstand. Es ist jedoch festzustellen, …. dass die Weiterbildungsordnung vom Orthopäden auch heutzutage keine Kenntnisse zur Magnetresonanztomografie fordert. Vielmehr bietet die Weiterbildungsordnung, was ebenfalls zeigt, dass derartige Kenntnisse dem Facharzt für Orthopädie nicht abverlangt werden, eine zweijährige Zusatzweiterbildung Magnetresonanztomografie mit abschließender Prüfung an, welche auf den Facharzt aufgesetzt wird. Erst mit dem Erwerb dieser Zusatzqualifikation eröffnet sich dem Orthopäden die Möglichkeit, eine solche Tätigkeit der Krankenkasse des Patienten in Rechnung zu stellen. Folglich fällt … die Befundung von MRT-Bildern, solange dieser nicht die vorgenannte Zusatzqualifikation erworben hat, nicht in das Fachgebiet des Orthopäden.

Bestätigt wird dies auch dadurch, dass … nur ein Orthopäde mit dieser Zusatzqualifikation die Auswertung von MRT-Aufnahmen auch abrechnen kann. Es erscheint als wenig schlüssig, dem Orthopäden von Rechts wegen anspruchsvolle Fertigkeiten aus einem fremden Fachgebiet abzuverlangen, die nicht einmal vergütungsfähig sind.

Die Verantwortlichkeit des Orthopäden für die angemessene und richtige Therapie ändert … nichts daran, dass sich der Orthopäde im Sinne der horizontalen ärztlichen Arbeitsteilung auf die Arbeitsergebnisse anderer Ärzte (hier des Radiologen) aus deren Facharztgebiet verlassen kann und darf. Die Entscheidungskompetenz des behandelnden Facharztes über die einzuschlagende Therapie liegt vielmehr gerade in der Natur der Arbeitsteilung zwischen diagnostischer Radiologie und dem Fachgebiet, in das der vom Radiologen festgestellte Befund fällt. Der Orthopäde kann, darf und muss sich bei seiner Therapieentscheidung auch anderweitig (Laborbefunde) auf Arbeitsergebnisse anderer Fachärzte verlassen.

Der Senat verkennt nicht, dass eine Vielzahl jüngerer Fachärzte für sich in Anspruch nimmt, MRT-Aufnahmen, jedenfalls auf ihrem Spezialgebiet, auch ohne zertifizierte Zusatzqualifikation kompetent auswerten zu können … . Dies ändert jedoch nichts daran, dass das ärztliche Berufsrecht eine derartige Fertigkeit dem Facharzt für Orthopädie nach wie vor nicht abverlangt. Im Übrigen verträgt sich der Anspruch von Nichtradiologen, MRT-Aufnahmen letztlich auf facharzt- oder facharztnahem Niveau auswerten zu können, nicht so ohne weiteres damit, dass der Facharzt für radiologische Diagnostik rechtlich und tatsächlich institutionalisiert ist.

Der Orthopäde muss den schriftlichen radiologischen Befund nur dann hinterfragen und in geeigneter Weise verifizieren lassen, wenn sich dieser mit den von ihm erhobenen klinischen Befunden nicht oder nur erheblich eingeschränkt vereinbaren lässt. Es bestehen jedoch … keine Anhaltspunkte dafür, dass dies hier der Fall war. Erst recht hat der Kläger keine derartigen Umstände behauptet und bewiesen.

Soweit … verlangt, dass der Orthopäde zur Überprüfung des schriftlichen radiologischen Befundes eine spezifische klinische Untersuchung (hier: Abtasten der Quadrizepssehne) nebst einer sonographischen Untersuchung der Sehne hätte vornehmen müssen, ist es nicht schlüssig - die Magnetresonanztomografie ist die Untersuchungsmethode mit der höchsten Spezifität für die Beurteilung der Knieverletzung des Klägers - einen Befund, der auf diesem Verfahren mit der höchsten Spezifität beruht, durch weniger aussagekräftige (oder in Teilbereichen allenfalls gleichwertige) Verfahren verifizieren zu wollen. Derartige Untersuchungen wären deshalb möglicherweise dann rechtlich geboten gewesen, wenn der klinische Befund in Widerspruch zum schriftlichen radiologischen Befund gestanden hätte.


Fundstelle: BeckRS 2013, 14860