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Beiträge und Entscheidungen/ Arzthaftungsrecht

Berücksichtigungsfähige Reserveursache bei ärztlichem Behandlungsfehler (BGH, Beschluss vom 31.05.2016 - VI Z R 305/15)

Soweit der Erwerbsschaden und die vermehrten Bedürfnisse des Geschädigten infolge einer bereits vorhandenen Erkrankung oder Disposition auch ohne das schadenstiftende Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wären (sog. Reserveursache), ist eine Schadensersatzpflicht auf die Nachteile beschränkt, die durch den früheren Schadenseintritt bedingt sind.


Ansprechpartner: Dr. Götz Tacke, Partner

In einem Arzthaftungsprozess hatte die Beklagtenseite eingewandt, dass die Klägerin auch ohne den Behandlungsfehler des Beklagten massiv in ihrer Leistungs- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt gewesen wäre, mit der Folge, dass sie ihren Haushalt auch ohne das haftungsbegründende Ereignis auf Dauer nicht hätte weiterführen und ihrer Berufstätigkeit nicht uneingeschränkt hätte nachgehen können.
Dieser Einwand wurde von den Instanzgerichten nicht berücksichtigt, was zu einer Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht führte.

Aus den Gründen:

"Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Daraus folgt zwar nicht, dass das Gericht verpflichtet wäre, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Gründen aber verarbeitet werden. Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war.

Soweit der Erwerbsschaden und die vermehrten Bedürfnisse des Geschädigten infolge einer bereits vorhandenen Erkrankung oder Disposition auch ohne das schadenstiftende Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wären, ist der Schaden dem Schädiger nicht zuzurechnen. Rechtlich handelt es sich darum, dass bei Vorhandensein einer Schadensanlage, die zum gleichen Schaden geführt hätte (sogenannte Reserveursache), die Schadensersatzpflicht auf die Nachteile beschränkt ist, die durch den früheren Schadenseintritt bedingt sind.

Allerdings kann ein solcher Umstand zu Ungunsten des Geschädigten nur dann Beachtung finden, wenn der Schädiger zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen hat, dass er tatsächlich eingetreten wäre. Selbst wenn dies nicht festgestellt werden kann, hat der Tatrichter bei der Ermittlung sowohl der Höhe als auch der Dauer des dem Geschädigten entstandenen Verdienstausfalls eine Prognose des gewöhnlichen Laufs der Dinge, wie sie sich ohne das Schadensereignis entwickelt hätten, anzustellen (§ 252 BGB). Es geht insoweit nicht nur um die Berücksichtigung eventueller überholender Kausalitäten, sondern um die Schadensermittlung als solche auf der Basis des Sachverhalts, wie er sich voraussichtlich in Zukunft dargestellt hätte. In diesem Rahmen kommt nicht nur der Frage Bedeutung zu, ob auch ohne das konkrete Schadensereignis beim Verletzten eine entsprechende gesundheitliche Entwicklung mit vergleichbaren beeinträchtigenden Auswirkungen zum Tragen gekommen wäre; es ist vielmehr auch das Risiko in die Betrachtung miteinzubeziehen, das durch die bereits vorhandene Erkrankung für die künftige berufliche Situation des Geschädigten bestanden. Dementsprechend ist eine Verdienstausfallrente auf die voraussichtliche Dauer der Erwerbstätigkeit des Geschädigten, wie sie sich ohne das haftungsbegründende Ereignis gestaltet hätte, zu begrenzen; hierbei sind Anhaltspunkte für eine vom gesetzlich vorgesehenen Normalfall abweichende voraussichtliche Entwicklung zu berücksichtigen."


Fundstelle: BeckRS 2016, 12054; ZMGR 2016, 240