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Beiträge und Entscheidungen/ Haftpflichtrecht

Anforderungen an den Nachweis einer HWS-Distorsion (LG Nürnberg-Fürth, Urteil v. 27.11.2015)

Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist (ausnahmsweise) dann nicht geboten, wenn das Attest des behandelnden Arztes keine verwertbaren Anknüpfungstatsachen enthält und sich in der Feststellung „Diagnose: HWS-Distorsion“ erschöpft.


Ansprechpartner: Nicole Tassarek-Schröder

Das Landgericht beruft sich in dieser Entscheidung zunächst auf die ständige Rechtsprechung des BGH (VersR 2008, 1133), wonach die Frage, ob sich ein Geschädigter überhaupt eine (HWS) Verletzung zugezogen hat, den von ihm zu führenden Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität betrifft, so dass die strengen Anforderungen des Vollbeweises nach § 286 ZPO gelten. Erst mit dem Nachweis, dass der Verkehrsunfall zu einer HWS-Distorsion und damit zu einer Körperverletzung geführt hat, steht der Haftungsgrund fest. Ob über diese Primärverletzung hinaus der Unfall dann auch für die HWS-Beschwerden des Geschädigten ursächlich ist, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die sich gem. § 287 ZPO beurteilt. Im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalles, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung.

Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine HWS-Distorsion verursacht hat, seien stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (BGH VersR 2003, 474; BGH VersR 2008, 1133). Die sogenannte „Harmlosigkeitsgrenze“ im Hinblick auf die Differenzgeschwindigkeit schließe eine Verletzung der HWS nicht generell aus (BGH VersR 2003, 474; BGH VersR 2008, 1133).

Zeitnah nach einem Unfall erstellte ärztliche Atteste sind im Rahmen der Überzeugungsbildung des Gerichts jedoch von eher untergeordneter Bedeutung, da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt; die Benennung der Diagnose als solche ist für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung. Solche Diagnosen sind deshalb im Allgemeinen nur eines unter mehreren Indizien, ohne dass ihnen eine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen ist (BGH VersR 2008, 1133).

Im konkreten Fall war die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ausnahmsweise nicht geboten, da das klägerseits vorgelegte Attest keinerlei verwertbare Anknüpfungstatsachen enthielt, sondern sich in der Feststellung „Diagnose: HWS-Distorsion“ erschöpfte. Einem medizinischen Sachverständigen wäre allenfalls eine Plausibilitätskontrolle der geklagten Beschwerden möglich. Eine solche Plausibilität kann allerdings unterstellt werden, da sie angesichts der außerordentlich geringen Differenzgeschwindigkeit nicht zum Nachweis einer Primärverletzung i. S. d. § 286 ZPO ausreichen würde.


Fundstelle: LG Nürnberg-Fürth v. 27.11.2015 - 8 S 1900/15 = BeckRS 2015, 20501