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Beiträge und Entscheidungen/ Haftpflichtrecht

Folgeschäden, die wesentlich durch eine Begehrenshaltung des Geschädigten geprägt sind, können dem Schädiger nicht zugerechnet werden (BGH, Urteil vom 10.07.2012)

Für so genannte Renten- oder Begehrensneurosen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der Geschädigte den Unfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen, scheidet eine Zurechnung aus.


Ansprechpartner: Dr. Götz Tacke, Partner

Zwar beruhen psychische Beschwerden, auch wenn sie wesentlich durch eine Begehrenshaltung des Geschädigten geprägt sind, äquivalent kausal auf dem Unfallgeschehen, wenn sie ohne dieses nicht oder nicht in dem erreichten Ausmaß aufgetreten wären. Diese sich aus der Äquivalenz ergebende weite Haftung für Schadensfolgen grenzt die Rechtsprechung aber durch die weiteren Zurechnungskriterien der Adäquanz des Kausalverlaufs und des Schutzzwecks der Norm ein.

Auch für Schadensersatzansprüche, die auf § 823 I BGB beruhen, ist zu prüfen, ob die äquivalent und adäquat kausal herbeigeführten Verletzungsfolgen, für die Ersatz begeht wird, in den Schutzbereich des Gesetzes fallen, ob sich also Gefahren verwirklicht haben, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen wurde. Der geltend gemachte Schaden muss in einem inneren Zusammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen; ein rein äußerlicher, gewissermaßen zufälliger Zusammenhang genügt nicht. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Es widerspricht dem Sinn des Schadensausgleichs, durch Schadensersatzleistungen eine neurotische Begehrenshaltung, die auf der Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens beruht, zu verfestigen. Ebenso widerspricht es dem Normzweck, wenn der Schädiger für Schadensfolgen aufkommen muss, die zwar äquivalent kausal auf dem Unfallgeschehen beruhen, bei denen aber ein neurotisches Streben nach Versorgung und Sicherheit prägend im Vordergrund. In solchen Fällen realisiert sich das allgemeine Lebensrisiko und nicht mehr das vom Schädiger zu tragende Risiko der Folgen einer Körperverletzung. Dem steht nicht entgegen, dass der Begriff der Unfall- oder Rentenneurose in medizinischen Fachkreisen abgelehnt wird. Zwar ist eine Unfall- oder Rentenneurose keine eigenständige Krankheit. Die Rechtsprechung zielt aber auch nicht auf den Ausschluss einer bestimmten Krankheit, sondern auf eine Verneinung des Zurechnungszusammenhangs für Verletzungsfolgen, die auf einer Begehrenshaltung beruhen. Solche Begehrenshaltungen müssen ihre Ursache nicht in nur einer bestimmten Krankheit haben, sondern können auf Grund unterschiedlicher Umstände entstehen.

Für die Beurteilung, ob eine neurotische Begehrenshaltung prägend im Vordergrund steht, kommt es

- auf den Schweregrad des objektiven Unfallereignisses,

- seine objektiven Folgen,

- auf das subjektive Erleben des Unfalls und seiner Folgen,

- auf die Persönlichkeit des Geschädigten und

- auf eventuell bestehende sekundäre Motive an.

Das Erfordernis des Schutzzweckzusammenhangs besteht nicht nur für die Primärverletzung, sondern auch für den haftungsausfüllenden Tatbestand. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, dass der Schutzzweckzusammenhang für von einem bestimmten Zeitpunkt an eingetretene Schadensfolgen zu verneinen ist, selbst wenn sie auf einem gewöhnlichen Verlauf einer psychischen Störung – hier der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung – beruhen. Nahezu jeder Unfall beinhaltet ein Unfallerlebnis, das verarbeitet werden muss. Diese Verarbeitung kann unterschiedlich gut gelingen; misslingt sie, können beim Unfallgeschädigten psychische Beschwerden unterschiedlicher Intensität und Dauer auftreten. Die Schadensfolgen können entscheidend durch eine Begehrenshaltung geprägt sein. Sie müssen nicht von Anfang an wesentlich durch eine Begehrenshaltung geprägt sein; die Begehrenshaltung kann sich im weiteren Verlauf verstärken, bis sie schließlich prägend im Vordergrund steht.

Für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Beschwerden entscheidend durch eine neurotische Begehrenshaltung geprägt sind. Im Einzelfall kann die Wertung schon dann eine das Beschwerdebild prägende Begehrenshaltung ergeben, wenn 90% des Krankheitsbildes auf eine Begehrenshaltung zurückzuführen ist.


Fundstelle: VersR 2012, 1133