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Beiträge und Entscheidungen/ Haftpflichtrecht

Reichweite der Haftung für psychische Folgeschäden ( BGH v. 10.02.2015 - VI ZR 8/14)

Die Haftung des Schädigers für psychische Folgeschäden hängt davon ab, ob der Geschädigte einen Unfall direkt miterlebt hat und kann begrenzt werden, wenn der Geschädigte die Durchführung ihm zumutbarer und erfolgversprechender Therapien verweigert.


Ansprechpartner: Dr. Götz Tacke, Partner

Eine Mutter reagierte auf das Vorfinden ihres erheblich unfallverletzten Kindes mit einem posttraumatischen Belastungssyndrom, Magersucht, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, HWS-Schmerzen und der Unfähigkeit, weiterhin den Haushalt zu führen. Sie nimmt den Unfallverursacher auf Ersatz des ihr dadurch entstandenen materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.

Das Berufungsgericht bejahte zwar ein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) und eine Magersucht als Unfallfolge, verneinte jedoch den Zurechnungszusammenhang zwischen dem Unfall und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab einem bestimmten Zeitpunkt, weil die Klägerin ihr angebotene Therapiemöglichkeiten nicht wahrgenommen habe, auch wenn ihr dies nicht im Sinne eines Mitverschuldens vorzuwerfen sei.

Das Urteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung durch den BGH nicht stand.

Auf die Revision der Klägerin stellt der BGH fest:

"Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats können psychische Beeinträchtigungen wie Trauer und Schmerz beim Tod oder bei schweren Verletzungen naher Angehöriger, mögen sie auch für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sein, nur dann als Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung von dem Unfall eines nahen Angehörigen oder dem Miterleben eines solchen Unfalls erfahrungsgemäß ausgesetzt sind. … Ist das nicht der Fall, fehlt es mithin insoweit an einem ersatzfähigen Schaden. Dieser wird nicht dadurch ersatzfähig, dass neben den grundsätzlich nicht zum Schadensersatz führenden Beeinträchtigungen auch eine unfallursächliche ersatzfähige Beeinträchtigung besteht. Insoweit geht es nicht um die Frage der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes, sondern um die vorgelagerte Frage der Ersatzfähigkeit eines eingetretenen immateriellen Schadens.

Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats hat der Schädiger für eine psychische Fehlverarbeitung als haftungsausfüllende Folgewirkung eines Unfallgeschehens einzustehen, wenn hinreichende Gewissheit besteht, dass die Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre. Der Zurechnungszusammenhang ist nur ausnahmsweise dann zu verneinen, wenn der Geschädigte den Unfall in neurotischem Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, um den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen. … Eine Zurechnung kann auch dann ausscheiden, wenn das Schadensereignis ganz geringfügig ist (Bagatelle).

Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen kann ein Zurechnungszusammenhang zwischen dem Unfall und der über 2007 hinaus andauernden Erkrankung der Klägerin nicht verneint werden. Ihr Unterlassen, sich einer Behandlung zu unterziehen, kann weder mit einer Fehlverarbeitung noch mit einer Begehrensneurose gleichgesetzt werden. Das Unfallgeschehen war keine Bagatelle. Die Kausalität zwischen dem Unfallgeschehen und den Gesundheitsbeeinträchtigungen kann auch nicht wegen fehlender Adäquanz verneint werden. Eine Haftung für die Folgen ab 2008 könnte nur unter dem Gesichtspunkt des Verstoßes gegen die Schadensminderungspflicht entfallen (§ 254 Abs. 2 Satz 1 BGB). Die Voraussetzungen dieser Norm hat das Berufungsgericht jedoch ausdrücklich verneint.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts könnte für die Bemessung des Schmerzensgeldes allerdings der Umstand Gewicht haben, dass die Klägerin die von ihr begonnene Therapie nicht fortgesetzt hat. Wegen der positiven Entwicklung des Gesundheitszustands der Klägerin nach der verhältnismäßig kurzen Vorbehandlung bewertet das Berufungsgericht die Prognose, dass eine Fortführung der Therapie eine Besserung erbracht hätte, als günstig. Es meint jedoch, der Klägerin könne wegen der unterbliebenen Fortsetzung der Therapie kein Mitverschulden angelastet werden, weil sie sich ausweislich der dokumentierten Behandlungsgeschichte um die Heilung, zumindest aber Besserung ihrer nach dem Unfall manifestierten Essstörung bemüht habe. Alles spreche zwar dafür, dass dies nicht in ausreichendem Maße geschehen sei.

Dass ihr dies in dem maßgeblichen Zeitraum subjektiv vorzuwerfen und nicht etwa Ausdruck ihrer auf das Unfallereignis zurückgehenden psychischen Fehlentwicklung sei, lasse sich weder nach dem Vorbringen der insoweit darlegungspflichtigen Beklagten noch dem Sachverhalt im Übrigen feststellen.
Möglicherweise hat das Berufungsgericht die für die Annahme eines Mitverschuldens erforderlichen Anforderungen überspannt. Von dem Verletzten muss nämlich verlangt werden, dass er, soweit er dazu imstande ist, zur Heilung oder Besserung seiner Krankheit oder Schädigung die nach dem Stande der ärztlichen Wissenschaft sich darbietenden Mittel anwendet; er darf in der Regel nicht anders handeln, als ein verständiger Mensch, der die Vermögensnachteile selbst zu tragen hat, es bei gleicher Gesundheitsstörung tun würde (RGZ 60, 147, 149; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 22 Rn. 112). Der Umstand, dass die Klägerin sich nach den getroffenen Feststellungen mit Rücksicht auf die mit einer Behandlung verbundene Trennung von ihren Kindern nicht weiter therapieren ließ, könnte ein Mitverschulden begründen, wenn der Klägerin eine weitere Behandlung der Essstörung zumutbar gewesen wäre. … Dazu hat das Berufungsgericht bislang keine ausreichenden Feststellungen getroffen."


Auf die Anschlussrevision der Beklagten stellt der BGH fest:

"Die Klägerin begehrt Schadensersatz wegen eines Gesundheitsschadens, der nach ihrem Vorbringen mittelbar als (psychische) Folge des Verkehrsunfalls ihres Sohnes eingetreten ist. Ein solcher Schadensersatzanspruch aus § 7 Abs. 1, § 11 Satz 2 StVG, § 823 Abs. 1, § 843 Abs. 1, § 253 BGB i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG in der hier anzuwendenden bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung wäre zwar ein eigener Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung eines eigenen Rechtsguts. …. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats genügt jedoch nicht jede psychisch vermittelte Beeinträchtigung der körperlichen Befindlichkeit, um einen Schadensersatzanspruch eines dadurch nur "mittelbar" Geschädigten im Falle der Tötung oder schweren Verletzung eines Dritten auszulösen. Dies widerspräche der Intention des Gesetzgebers, die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den Schutzgütern als auch den durch sie gesetzten Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken. … Deshalb können psychische Beeinträchtigungen naher Angehöriger, mögen sie auch für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sein, wie oben dargelegt nur dann als Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind. Dabei hat der erkennende Senat stets dem Umstand Bedeutung beigemessen, ob die von dem Dritten geltend gemachten psychischen Beeinträchtigungen auf seine direkte Beteiligung an einem Unfall oder das Miterleben eines Unfalls zurückgeführt werden oder ob sie durch den Erhalt einer Unfallnachricht ausgelöst worden sein sollen. ...

Die Anschlussrevision rügt mit Erfolg, dass sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen lässt, ob das Berufungsgericht bei seiner Annahme, bei der Klägerin sei aus dem Erlebnis der Unfallverletzung ihres Sohnes ein posttraumatisches Belastungssyndrom eingetreten, berücksichtigt hat, dass die Klägerin an dem Unfall weder direkt beteiligt war noch ihn unmittelbar miterlebt hat. Wie die Anschlussrevision mit Recht geltend macht, lässt sich auch den Darlegungen des Sachverständigen Dr. W. nicht entnehmen, ob dieser bei seiner Beurteilung dem von der Klägerin für die psychische Beeinträchtigung verantwortlich gemachten auslösenden Ereignis hinreichend Rechnung getragen hat. Der Sachverständige begründet die nach seiner Bewertung gegebene Ursächlichkeit des Erlebens der Unfallverletzung für die eingetretene posttraumatische Belastungsstörung im Wesentlichen mit dem zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und dem Auftreten der Magersucht. Die Anschlussrevision weist jedoch zutreffend daraufhin, dass nach anerkannter medizinischer Definition ein posttraumatisches Belastungssyndrom (ICD10: F43.1) durch ein schwerwiegendes traumatisches Erleben ausgelöst wird. Es handelt sich um eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (Dilling/Mombour/Schmidt, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 9. Aufl., S. 207; vgl. Senatsurteil vom 10. Juli 2012 - VI ZR 127/11, VersR 2012, 1133 Rn. 33). Ob sich das von der Klägerin erlebte Geschehen als ein derart schwerwiegendes traumatisches Erleben darstellt, lassen die Darlegungen des Sachverständigen Dr. W. nicht erkennen."

Anmerkung:

Der BGH grenzt die Haftung für Folgeschäden ein, indem er feststellt, dass die Verweigerung zumutbarer Therapien ein zur Anspruchskürzung führendes Mitverschulden es Geschädigten begründen kann und dass die Hürde für die Zubilligung eines Schadenersatzanspruchs für einen „nur“ mittelbar Geschädigten im Falle der Tötung oder schweren Verletzung eines Dritten höher ist, wenn er das Unfallgeschehen nicht direkt miterlebt hat, sondern später dazugekommen ist oder „nur“ die Unfallnachricht erhalten hat.


Fundstelle: VersR 2015, 590 f